Social Media:

Vier, Eins, Fünfzigtausend

Es ist kurz nach drei Uhr in der Nacht. Vor ein paar Stunden hat der 1. FC Köln in Müngersdorf das Derby gegen den alten Rivalen aus Mönchengladbach gewonnen. Vier zu eins. Ein Debakel für die Mannschaft von Adi Hütter, ein Triumph für Steffen Baumgart und unser Team. Die Emotionalität, die dieses Spiel mitbringt, die Stunden und Tage und Wochen, die wir als Fans des FC von diesem Sieg zehren können und werden, die Elektrizität und die vollkommene innere Erschöpfung nach einem solchen Tag, ja, das ist wohl etwas, was dem Fan eigen ist. Wer es nicht kennt, wird es nicht verstehen. Wer diese Aufgewühltheit nicht erlebt, wird nur den Kopf schütteln und weitergehen. Das ist in Ordnung. Ich verstehe Menschen nicht, die wirkliche und anhaltende Emotionen durch und mit Musik erleben. Oder durch Filme. Ich kann die Wut der Star Wars Fans auf Disney wahrscheinlich irgendwie nachvollziehen, aber wirklich nur marginal. Eigentlich nicht wirklich. Aber das ist okay. Ich stelle diese Wut nicht in Abrede oder gucke von oben darauf. Diese Leute sind eben Fans und die Filme waren scheiße. Ist mir egal, denen nicht. Bei mir ist es halt der Fußball. Der 1. FC Köln. Dass das nicht mal im Ansatz irgendwie rational ist, ist mir klar. Müsst ihr mir nicht erklären.

Das Derby zu gewinnen ist wichtig. Für den FC und auch für mich. Für mein Wohlbefinden. Um 17:20 Uhr fiel ich einem Freund um den Hals. 4:1. Gegen die scheiß Borussia. Es tat so gut. Junge! 4:1! Welch Spektakel. Steffen Baumgart war auf dem Weg in die Kurve, die Menschen jubelten und feierten, irgendwo floss wahrscheinlich eine Träne und alles war gut in Müngersdorf. Für diesen Moment.

Aber irgendwann geht der Puls wieder runter und der Moment ist vorbei, denn das Thema hat sich verschoben. Jedenfalls in der Nicht-FC-Fans-Öffentlichkeit. Es herrscht Empörung. Die Bilder aus dem ausverkauften Stadion werden wutentbrannt auf Social Media geteilt. 50.000! Verantwortungslos! Superspreader! Ihr kennt die Schlagworte. In einer Vehemenz, in einer Unsachlichkeit, die mich dann doch überraschte. Mal den Punkt außen vor gelassen, dass es, außer in Aue, in jedem Stadion der ersten und zweiten Bundesliga Zuschauer gab, weil das ja kein wirkliches Argument ist, ist es doch erstaunlich mit welcher Härte auf den Verein und die anwesenden Zuschauer eingeschlagen wurde. Und weil ich das irgendwie schon verstehen und auch argumentativ etwas zu dieser Diskussion beitragen möchte, gibt es jetzt diesen Text. Twitter war mir dann doch zu unbequem.

Ich behaupte mal, dass man mir nicht nachsagen kann, dass ich jede Entscheidung oder Meinung meines Vereins kritiklos beklatsche und ich denke auch, dass Kritik immer sein darf. Und muss. Ohne konstruktive Kritik kann sich nichts entwickeln. Im privaten genauso wenig wie bei einem Fußballverein. Wenn ich anders denke, als mein Vorstand oder mein Sportdirektor, dann sage ich das auch. Aber ebenso möchte ich den Verein auch verteidigen, wenn ich denke, dass er ungerecht behandelt wird. Ich bin ein Teil dieses Vereins. Ein Einhundertfünzehntausenstel 1. FC Köln.

Das Gesundheitsamt der Stadt Köln hat dem Verein die Erlaubnis erteilt, das Stadion unter 2G-Voraussetzung voll auszulasten. 50.000 Menschen durften also rein. Diese 50.000 Menschen sind Geimpft oder Genesen. Es gab nachweislich flächendeckend Scans der QR-Codes und Ausweiskontrollen. Es gibt einen eigenen Eingang für nicht-digitale Impfbücher. Hier wird fünf Mal hingeschaut. Der Verein und die zuständigen Sicherheitsunternehmen konnten sich hier auch gar keine Schlampigkeit leisten, da Mitarbeiter der Stadt vor Ort waren und dies kontrollierten. Ob es Einzelfälle gab, die nicht anständig kontrolliert wurden? Keine Ahnung. Auszuschließen ist es nicht. Wie überhaupt ganz wenig im Leben auszuschließen ist. Ob sich vielleicht jemand mit einem erschwindelten Zertifikat ins Stadion geschmuggelt hat? Ich weiß es nicht, aber bei 50.000 Menschen ist die Wahrscheinlichkeit nicht absurd gering. Kann schon sein. Ob (unerkannt) Infizierte im Stadion waren? Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Ziemlich hoch sogar. Diese Fragen sind allesamt nachvollziehbar und ich kann es auf einer emotionalen Ebene auch verstehen, dass diese Fragen von Menschen, die vielleicht im Gesundheitswesen arbeiten, die seit zwei Jahren eine Hauptlast der ganzen Scheiße tragen und dafür kaum gewürdigt werden, gestellt werden. Wie gesagt: Emotional.

Emotionen sind wahrscheinlich auch der hauptsächliche Grund, warum das ganze so hochkocht. Da sehen wir Bilder einer vollen Kurve, größtenteils maskenlos, obwohl dies auch eine Auflage der Stadt war, jubelnd, eng aneinander gedrückt, sich in den Armen liegend, lachend und schreiend. Und dann denken wir an überlastete Krankenhäuser und volle Intensivstationen und Pflegepersonal am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Wir schauen auf die Pandemie-Karte und sehen die immer weiter steigenden Inzidenz-Zahlen, wir schauen wieder auf das Stadion und dann denken wir an Lothar Wieler und Christian Drosten und irgendwie passt das nicht zusammen im Kopf. Irgendein Bild ist falsch. Es ist Pandemie! Es ist vierte Welle! Menschen sterben! Und da stehen die Arschlöcher und machen Party. Scheiße, das muss ich jetzt twittern! Guckt Euch DAS mal an!

Ich denke der Impuls ist falsch. Nachvollziehbar vielleicht. Emotional. Aber falsch.

Ja, wir sind in einer gesamtgesellschaftlich furchtbaren Lage. Corona, wir hatten es doch schon überwunden, ist immer noch da und die Zahlen sind furchterregend. Aber ist ein 2G-Event in einem Stadion, draußen, wirklich ein derartiges Empörungsmuster? Ich verstehe es nicht. Zuerst einmal: Mit wie vielen Menschen kommt man im Stadion für längere Zeit wirklich in Kontakt? Sagen wir mal du bist mit der Bahn gekommen. Das ist vergleichbar wie eine Fahrt ins Büro oder zur Schule. Jedenfalls in Köln, glaubt mir. Hier ist also das Gefahrenpotential zum Stadion nicht höher, als Montagmorgen um acht. Dann ist man am Stadion. Der Weg von der Bahn zum Stadion ist völlig problemlos ohne jeden näheren körperlichen Kontakt zu managen. Vergleichen wir es mit einem Spaziergang im Park. Da sind auch manchmal andere Menschen. Am Stadion der Eingang, ist die Engstelle. Da trifft man sich vielleicht mit seinen Leuten, begrüßt andere Menschen, spricht mal fünf Minuten mit dem und fünf Minuten mit dem. Man weiß allerdings, dass die Menschen geimpft oder genesen sind, sonst wären sie ja nicht hier. Hier und im Umlauf war die Maskendichte im Übrigen extrem hoch. Das ist schon mal etwas, was man bei einem Gang durch die heimische Stadt, wenn man vielleicht auch mal bei einem Bekannten stehen bleibt, nicht unbedingt hat. Und dann geht man ins Stadion. Geht auf seinen Platz. Um dich herum sind deine Freunde und die anderen unmittelbaren Sitznachbarn. Sagen wir zwei Reihen nach hinten, vier Plätze nach rechts und links, und nach unten machen wir auch noch mal zwei Reihen. Da kommen wir dann auf 15-20 Personen im Sitzplatzbereich und vielleicht 30 im Stehplatzbereich. Und das ist jetzt keine Minimal-Rechnung. Nach dem Spiel wiederholt sich das Ganze. Ich würde mal tippen, dass ein durchschnittlicher Stadionbesucher mit An- und Abreise mit maximal 60-70 Personen so Kontakt hat. Abseits der Bahn übrigens immer an der frischen Luft. Wenn ich das mit einem Shopping-Tag in der Fußgängerzone oder einem Kneipenabend vergleiche, sehe ich da jetzt kein signifikant größeres Risiko. Eigentlich sogar das Gegenteil. Ich möchte behaupten, dass ein Besuch des Spiels weniger gefährlich für den Einzelnen und die Gesellschaft ist, als ein Tag im Büro/Schule mit Mittagessen, einem Supermarktbesuch und einem Feierabend-Bierchen. Die Auswertung der DFL-Zahlen spricht hier Bände. 3,76 Millionen Besucher, 10 Infektionen (keine Ansteckung im Stadion) und 72 Nachkontakte.

Aber das sind halt keine Bilder, die man sieht. Die Bilder aus Müngersdorf prägen sich eben ein, als ein Mahnmal der Ignoranz, als eine Verachtung der gesellschaftlichen Verantwortung jedes einzelnen Stadionbesuchers. Und wie das so ist mit kleinen Flammen, wenn man Holz nachlegt, wird es irgendwann ein Brand. Den hat der FC jetzt an der Backe. Politiker fordern Konsequenzen, wahrscheinlich muss der Redaktionsplan von Maybritt Illner umgeschrieben werden und morgen werden wir, ich kann es schon riechen, ziemlich sicher viele niederschmetternde Kommentare in den Sonntagsausgaben lesen. “Wie der 1. FC Köln die Gesellschaft lähmt” oder sowas.

Ich wundere mich weiter über die Argumentation.

Wäre es gesellschaftlich verantwortungsvoller Geimpften und/oder Genesenen den Zugang zu Freizeiteinrichtungen zu untersagen? Wäre es gesellschaftlich verantwortungsvoller die Einschränkungen im Leben auch für Geimpfte und Genese wieder einzuführen? Ist es die Aufgabe des 1. FC Köln seine Fans und Zuschauer ohne jede vorhandene Grundlage auszuschließen? Ist es gesellschaftlich verantwortungsvoll, wenn die Worte aus dem Sommer (Natürlich müssen Geimpfte wieder volle Rechte haben usw usf) einzustampfen und zu sagen: Ja, ihr seid zwar geimpft, aber das ist uns jetzt auch egal, wir machen hier wieder dicht, weil isso? Ja? Wäre das der richtige Schritt? Für mich nicht.

Man kann darüber streiten, ob ein 2G+ Konzept nicht die bessere Wahl ist. Vielleicht. Aber eigentlich ist das auch nur eine weitere Verschiebung. Dann kommen die Leute und sagen: Jaahaa, aber solche Tests kann man ja fälschen und überhaupt, wer kontrolliert das denn? Bringt meiner Meinung nach in der Diskussion um “richtig” oder “falsch” genau gar nichts, weil die Menschen, die die Veranstaltung als unangemessen und verantwortungslos ablehnen das auch dann täten. Nein, ich möchte wirklich mal wissen, was denn die Lösung sein soll. Sollen wir jetzt, obwohl Geimpft, also wieder auf unsere Grundrechte verzichten? Sollen wir einfach klein bei geben und sagen: Hey, ja, ich versteh das ja, im Erzgebirge und in Füssen will man sich halt nicht impfen lassen, dann bleibe ich halt auch zu Hause? Ja? Ist das wirklich die Lösung? Machen wir jetzt immer so weiter? Ernsthaft? Kontaktreduzierung um jeden Preis?

Seit fast zwei Jahren hören wir, dass “die Impfung der Ausweg aus der Pandemie” sein wird. Und dann machen wir das auch und hoffen natürlich, dass wir dadurch gesund bleiben und auch unseren gesellschaftlichen Anteil leisten. Und jetzt hören wir, dass es trotzdem unverantwortlich sei, sich normal zu verhalten. Also Pre-Corona-normal, meine ich. Woran liegt das? Ich kenne die Argumente, dass ein Geimpfter immer noch Überträger sein kann und dass er Menschen, die keinen Impfstatus haben können (Kinder) oder wollen (Erzgebirge, Füssen) anstecken kann. Ja. Aber ändert sich das nächstes Jahr? Oder Übernächstes? Ist das nicht vielmehr das “neue normal”? Wir kommen wir denn da raus? Wie können wir zu einer Normalität zurückkehren, wenn eine Veranstaltung unter 2G-Regeln so derart in der Luft zerrissen wird? Ich bin da wirklich ratlos. Vor zwei Wochen fand das Spiel unter exakt den gleichen Bedingungen statt und war, jedenfalls soweit ich das mitbekommen habe, nicht wirklich ein Thema. Seitdem sind zwar auch in Köln die Zahlen gestiegen, aber auf 100k Einwohner sind wir hier ungefähr 1/10 Erzgebirge. Auch kein schöner Satz.

Das Argument, dass andere Dinge ausfallen, aber der FC Zuschauer zulassen darf, dass die Kinder nicht im Martinszug laufen dürfen oder das in Tuttlingen Ost die F-Jugend aber nicht zum Training durfte, sind mir auch zu dünn. Ja, ist doof und wahrscheinlich auch nicht gerecht, dass irgendwo ein Martinszug ausfällt (hier im Ort durfte z.B. das Martinsfeuer nicht stattfinden, der Zug allerdings schon), aber damit begründet man doch nicht einen Zuschauerausschluss.

Nein, wir müssen endlich anerkennen, dass Corona eine neue Lebenswirklichkeit darstellt, aber wir dürfen dadurch nicht aufhören zu leben. Ich rede nicht von irgendeiner albernen libertären Freiheit, sondern ich rede von ganz alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Ins Stadion gehen zu dürfen muss dazu gehören. Das Problem ist nicht Köln-Müngersdorf, das Problem sind die Millionen Verweigerer, die uns als Gesellschaft an den Rand des Wahnsinns treiben. Die müssen adressiert werden nicht 50.000 2G-Fußballfans. Es darf da keine Verantwortungsverschiebung geben. Und Debattenbeiträge a la “Ob ihr den Schuss nicht gehört habt, will ich wissen” o.ä. bringen halt ausser empörtem Applaus auch nichts. Kaufen können wir uns dafür nichts, das wissen wir jetzt schon eine ganze Zeit.

5 comments to Vier, Eins, Fünfzigtausend

  • Bine

    Sehr guter Text.

  • Markus

    Hallo, an vielen Stellen hätte ich es nicht besser schreiben können. Jetzt kann ich es mir aber sparen 🙂
    Deckt sich in 90% der Dinge mit meiner Meinung. Mehr Realismus als emotional verklärte Angstmacherbilder.

  • Anonymous

    Hallo,

    irgendwie hast du Recht, aber dann auch wieder nicht. Dem FC einen Vorwurf zu machen ist hanebüchen, wenn der Verein 50 k reinlassen darf dann ist das so. Ich würde das auch so machen wenn ich dürfte, kein Zweifel. Den Vorwurf muss man, wenn dann, den politischen Entscheidern machen. In 2 Wochen, speziell in der aktuellen pandemischen Lage, kann viel passieren und “nur” weil es vor 2 Wochen “OK” war muss es dies heuer nicht auch sein. Das es mit dem ewigen Corona Maßnahmen hin und her nicht ewig weitergehen kann ist klar, aber ich kann die Empörung (so übertrieben sie war) über die vielen Zuschauer im Ansatz nachvollziehen. Betrachtet man das Infektionsgeschehen, so ist eine Weitergabe der Krankheit höchst wahrscheinlich ebenso wie problematisch (mehr Infizierte, auch wenn die DFL Zahlen gering ausfallen.
    Ich kann deine Argumentation, ” ewig kann das nicht weitergehen, Normalität in allen Bereichen soll wieder möglich sein” auch verstehen, is auch richtig. Ab einem bestimmten Punkt ist die Reduktion der Grundrechte nicht mehr tragbar.

    Schwierig isses. Nun kann man zu Recht auf das lauchige Deutschland samt Insassen, schimpfen es /sie hätte(n) es mal wieder verkackt und man könnte viel besser da stehen. ( siehe “hier beliebiges Land aus dem Süden der EU einsetzen”). Das hilft aber aktuell nicht. Und damit schlage ich den Bogen zu der “Zuschauerfrage”. Auch 50 k in Müngersdorf helfen aktuell nicht die Gesamtsituation zu verbessern/ entschärfen, was auch immer. Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass es aktuell nicht richtig war das Stadion/ die Stadien so stark zu füllen. Das hätte aber die Politik entscheiden müssen und dafür können die Vereine/ DFL nichts. Sie sind auf die Einnahmen angewiesen und wie gesagt, ich hätte es an deren Stelle ebenso gemacht. Und wem das Risiko des Besuches zu hoch ist der geht nicht hin, logisch.

    Alles in allem bin ich irgendwie nach wie vor ratlos und froh nicht entsprechende Entscheidungen treffen zu müssen. Ich fürchte jedoch, die nächsten Einschränkungen auch für Stadionbesucher:Innen werden nicht lange auf sich warten lassen.

    Der nächste Kack-Winter steht bereit, sinnlos.

    Grüße

  • Tim

    Zitat: “…sondern ich rede von ganz alltäglichen Selbstverständlichkeiten.”

    Bei über 100.000 Toten (Millionen weltweit) von Selbstverständlichkeiten zu reden, gerade dann wenn ein großer Teil davon vermeidbar wäre, ist pietätlos und Zitat: “…Aber falsch.”. Und auf wirtschaftliche Aspekte, “solange es erlaubt ist”, abzustellen, sollte bei kapitalistischen Institutionen (Einzelhandel, Gastronomen) hinnehmbar sein (nicht immer verständlich; Motto: lieber nicht pleite als die Kunden tot). Aber ein e.V., ein gemeinnütziger Verein, der vom Verfasser der o.g. Zeilen, gerade deshalb “geliebt” wird, sollte seiner Gemeinwohlverpflichtung halt oder eben auch auch durch Selbstbeschränkung (ohne Zuschauer als Zeichen) nachkommen.

Haut rein, schreibt mir was!