Social Media:

Fieber

Gut, zugegeben, es ist nicht einfach. Seit Monaten übertreffen wir uns (vor allem) in den sozialen Medien mit mehr oder weniger nonchalanten Desinteresse-Bekundungen zur anstehenden WM. Russland, Putin, FIFA, Infantino, Adidas, Gazprom, Menschenrechte, Hooligans, Nazis, Özil, Gündogan, Erdogan, Schland oh Schland, die Liste des Grauens lässt sich noch mühelos weiterführen. Genervt ballen wir unsere Faust in der Tasche und murmeln ‘Reclaim the Game’ mantraartig vor uns hin. Wir träumen von früher, von der Kindheit, als wir mit feuchten Händen vor dem kleinen Fernseher saßen und die große weite Welt ins Haus kam. Wir denken an Paolo Rossi, der unsere Herzen genauso brach wie Jorge Burruchaga.

Toni halt den Ball. Nein.

Wir erinnern uns an diese eine magische Nacht in Rom, an den langen Gang des Kaisers, an Andreas Brehme, der mit der Präzision eines Herzchirurgen den Ball neben den linken Pfosten setzte. Die Unschuld der Jugend. Sport war Sport und Leben war Leben. Was interessierte mich damals, dass Brehme im eigentlichen Leben eher selten mit einem Kardiologen gleich gesetzt wird, oder dass Beckenbauer wohl schon damals ein – im weitesten Sinne – Lebemann war. Völlig egal. Was zählt ist die Erinnerung an die unbändige Freude, an den Stolz. Ja, den Stolz. Nach zwei schmerzenden Final-Niederlagen ’82 und ’86 endlich den Pokal zu haben. Ich war 14. Ich war gerade Weltmeister geworden.

Von da an ging es bergab. Ich kann mich natürlich noch an 94 erinnern, wir saßen beim Tischtennis-Verein auf dem Sommerfest, als Hristo Stoitchkov und Yordan Letchkov innerhalb von ein paar Minuten die Titelverteidigung verhinderten. Aber, es war wenig Trauer dabei. Ich war ja schließlich schon Weltmeister. Dann trinken wie eben Bier. 98 war genauso egal, wir haben ja 96 in England die Euro geholt. Football’s coming Home. Welche Explosion. Ich denke 1996 war mein persönlicher Peak mit der Nationalmannschaft. Der Pathos, die Wucht des Erfolgs, das perfekte Drama. David Baddiel und Frank Skinner begleiteten mich jahrelang durch die nachfolgende Fußball-Depression. Wenn der 1.FC Köln mal wieder abgestiegen war, wenn der DFB dachte, dass es vielleicht eine gute Idee sei Erich Ribbeck als Nationaltrainer zu installieren, wann immer dieses Fußball ist ein Arschloch-Moment hoch kam, die Three Lions konnten den Tag retten, denn es trieb mich immer zurück nach London. Gareth Southgate, the whole of England is with you.

Und dann kam irgendwann 2006. Über die Tränen des Oliver Kahn auf dem Platz in Yokohama weiß ich gar nicht mehr viel. Wir schauten das Spiel mittags beim Grillen, gingen dann in die Stadt und ich um sechs Uhr morgens direkt von dort zur Arbeit. Also 2006. Die Stunde Null des modernen Fußballs in Deutschland. Die Erweckungsmesse der Schlandies. Schwarz-Rot-Gold. Ein ganzes Land. Public Viewing auf dem Alter Markt, besoffene Engländer, ganze Busladungen blonder Schwedinnen, Deutschland-Argentinien im Biergarten. Jubel, Orkan. Schwarz-Rot-Gold. Welch Fest. Wir schrieen es in die Welt: Guckt uns an. Wir sind gar keine Arschlöcher mehr! Echt jetzt! Wieder war da ein bisschen Stolz im Spiel. Ausnahmslos jeder ausländische Fan mit dem ich sprach, war fasziniert von der guten Stimmung, von den freundlichen Gastgebern, von der Fairness. Sie alle wollten wiederkommen. Lustige Geschichte am Rande: Ein englisches Pärchen, dass sich – ein häufiger Fehler – den kleinen Kölsch-Gläsern überlegen fühlte, sprach mich in der Bahn nach Brühl an, wo sie denn wären, sie müssten irgendwie an ihrem Hotel vorbei gefahren sein, wüssten aber nicht mehr genau wo das ist, würden aber schwören die Aussicht auf Hürth-Fischenich noch nie genossen zu haben. Nach einem Blick auf den Hotelschlüssel konnte ich ausmachen, dass sie aber tatsächlich im damaligen Hansa-Hotel in Brühl wohnten. Ich bin dann mit ihnen noch dahin gegangen und hab sie abgeliefert. Das war ein schöner Spaziergang mit unfassbar betrunkenen aber netten Leuten, die sich überschwänglich bedankt haben und sich einfach nur wohl gefühlt haben bei uns. Das war für mich die Quintessenz von 2006. Der Slogan “Die Welt zu Gast bei Freunden” traf es mMn schon ziemlich gut. Der Italien-Schock war natürlich nicht der erhoffte Climax aber alles in allem habe ich 2006 genossen.

Little did we know…

Heute wünschte ich mir 2006 hätte nie stattgefunden. Alles was 2006 ausgemacht hat, ist zum Alptraum geworden. Die Schlandisierung ganzer fußball-ferner Bevölkerungsschichten, die L’Orealisierung der Spieler, die Daimlerwerdung der Funktionäre, die Ausschlachtung des schönen Spiels hin zu einer Chicken McNugget Bestie. Ein Einheitsfraß, der, in alberne Soße getunkt und rücksichtslos gefressen, den Massen vor die Füße geworfen wird. Es ist nichts echtes mehr an diesem Spiel, auf diesem Niveau. Da ist kein Knochen im Weg oder ein Stück dunkles Fleisch. Es ist ein Brei, der geformt und genormt ist, der überall gleich aussieht und gleich schmeckt, der perfekt portioniert werden kann und dank Chlor und Sulfat auch nicht verrottet. Es ist das was die Menschen wollen. Ein Monster ohne Seele, ohne Essenz.

Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir das alles schon gar nicht mehr ernst nehmen können. Die Mannschaft. Best Never Rest. Die Rügenwalder Fußball-Leberwurst.

Und viele, viele Menschen, die ich vom Fußball kenne, die sich selbst als seriöse Fußball-Fans bezeichnen würden, die 30plus Spiele ihrer Mannschaft in der Saison im Stadion sehen, machen ihrem Ärger darüber (verständlicherweise) Luft. Was interessiert mich der ganze Scheiß denn noch? Der Zauber von damals wird nie wiederkommen. Alles nur noch Kommerz und Dreck.

Stimmt.

Dennoch…

Irgendetwas in mir lässt da nicht los.

Vielleicht bin ich aber auch ein Sonderfall, der sich völlig unironisch das dänische Pokalfinale auf DAZN anschaut, der Afrika-Cup-Qualifikation zwischen der Zentralafrikanischen Republik und Mali auf Eurosport 2 sieht, ohne sich zu fragen, ob er nicht wenigstens ein ganz klein wenig geisteskrank ist und der in der zweiten österreichischen Liga letzte Saison mehr Stunden verbracht hat, als objektiv gesund ist. Vielleicht stimmt mit mir was nicht, das kann schon durchaus sein.

Dennoch…

Es ist das größte Sport-Event der Welt.

Ich kann jedes einzelne Argument einer Verweigerung der WM verstehen. Ich unterschreibe es sogar mit zwei gekreuzten Finger hinter dem Rücken. Mir geht doch auch alles auf den Keks. Ich will doch auch den Fußball von früher zurück. Ich verteidige nichts. Aber wenn am Freitag um 14 Uhr Uruguay und Ägypten in Jekaterinburg aufeinander treffen, dann könnt Ihr Euch  sicher sein, dass der Fernseher an ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, da nicht hin zu schauen. Suarez gegen Salah. Hallo? Vielleicht ein Videoschiedsrichter aus Usbekistan? Wer könnte dem widerstehen? Danach Marokko gegen Iran, ein Fest und abends Portugal gegen Spanien, das erste echte Highlight der WM. Der Freitag ist schneller vorbei, als Uli Hoeness ‘Bolton Wanderers’ aussprechen kann.

Und so geht das dann vier Wochen. Costa Rica – Serbien, Sonntagmittag um zwei. Wer da nicht zuschaut, dem kann ich auch nicht helfen. Kolumbien gegen Japan, Schweden gegen Südkorea, ich werde mir das alles geben. Ich stehe nachts um eins auf um mir den Florida-Cup des FC anzuschauen, da kann ich doch nicht mittags auf ein WM-Spiel verzichten.

Tief in mir weiß ich, dass das falsch ist. Dass man nur mit kaltem Entzug und nur mit Protest etwas – und sei es nur etwas für sich selbst – verändern kann. Ich bin ja nicht komplett blöd, mir ist schon bewusst, dass ich mit meinem Verhalten genau in die Falle tappe, die die FIFA ausgelegt hat. Aber, ihr wisst es genauso gut, Chicken McNuggets schmecken ja nicht scheiße. Man fühlt sich hinterher schlecht und vielleicht auch schuldig aber im Moment des Konsums ist das ja schon ein bisschen geil.

Und, wer weiß, vielleicht erleben wir wieder etwas, das mit 2014 vergleichbar ist. Auch vor vier Jahren ist uns alles schon auf den Keks gegangen aber dann schießt Deutschland fünf Tore in 25 Minuten gegen Brasilien, die “für-jedes-Tor-ein Kurzer”-Flasche ist zur Halbzeit lange leer und wir lachen und feiern, denken an früher, können für eine Nacht wieder Kinder sein. Ohne Gedanken an die Enteignungen in den Favelas, an die Regenwald-Rodungen und die politischen Ungerechtigkeiten. Kritiklos sein zu dürfen ist ein Sportfan-Privileg.

Ganz sicher sind es auch die Freakigkeiten des Spiels und die Absurditäten der Gesamt-Gemengelage, die eine gewisse Faszination auf mich ausüben aber das alles zusammengenommen, das reicht dann schon. Ich freu mich auf die WM. Ernsthaft.

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12 comments to Fieber

  • Hast mir ein kleines bisschen die Vorfreude zurückgebracht. Ich war bisher nur auf dem Level, das du in Absatz 1 beschreibst. Viel Spaß bei der WM 🙂

  • Tim Blosze

    Vielen vielen Dank für diese Zeilen, die auch tief aus meinem Herzen stammen könnten.

    Danke Merkel.

  • Marcel

    Ich dachte schon ich wäre der Einzige in meiner Blase, der sich, trotz all dem ganzen Mist, dennoch auf die WM freut.
    Und ich denke nicht, dass eine Abstinenz der Fußballgeplagten etwas besser machen würde. Die Eventisierung würde dadurch, aufgrund noch größerer Kritiklosigkeit, nur noch weiter fortschreiten und immer mehr abstumpfen. Und das kann ich meinem Sport einfach nicht wünschen.
    Es muss strukturell etwas passieren. Ein Dealer verkauft seinem Junkie ja auch keine Überdosis. Er soll ja schließlich das nächste mal wieder bei ihm einholen. Das könnten sich FIFA, UEFA, DFB und Co. vielleicht auch mal zu Herzen nehmen und nicht noch ein Turnier ins Leben rufen oder den Spieltag noch auf Dienstagvormittag ausweiten.
    Ach, ich schweife schon wieder ab…

    Danke für den Text, der wahrscheinlich vielen aus der Seele gesprochen hat.

  • alex_muc86

    Es ist bekloppt, es ist absolut irrational und unter normalen Gesichtspunkten würde ich sagen, dass du einen Knall hast.
    Und doch sprichst du mir aus der Seele…

  • Ich bin bislang auch noch komplett unemotional, was das kommende Turnier angeht. Keine Regung, eher die Genervtheit über den von dir so schön beschriebenen Rummel um alles rund um “Die Mannschaft” und die WM generell.

    Aber dann beobachte ich meine drei Kinder. Wie sie in ihrem Alter mit um die zehn Jahre herum dem Turnier entgegenfiebern, sich das Paninialbum gekauft haben und fleißig Sticker auf dem Schulhof tauschen, den Kader schon rauf und runter deklinieren können und die Tage runterzählen bis zum 1. Spiel der Deutschen. Dann freue ich mich doch auch so langsam auf das Turnier. Ich freue mich für sie und darauf, sie beobachten zu können in ihrem Spaß am Spiel und dieser großen Hoffnung auf den Sieg von Neuer, Müller und Co. Ich freue mich darauf, mit ihnen über die Spiele und Spieler, Aufreger und Enttäuschungen zu diskutieren. Und blende vermutlich auch den Großteil der Schattenseiten dieses Turniers aus.

  • Ach, Axel! Haste schön gesagt.

  • Schöne Worte. Passende Worte. Besonders zu dem, was nach 2006 kam. Trotzdem will ich das Jahr, den Sommer, die WM nicht missen. Die Spiele in Kaiserslautern, all die guten Tage und Abende mit den Australiern, die wir ein bisschen adoptiert haben genauso wie sie den Geist vom Betze. Aber ja, die Augen rollen bei jedem Fähnchen am Auto oder im Straßengraben, bei jedem schlandisierten Beutel oder Keks-Schoko-Riegel. Aber sie freuen sich auch ein bisschen. Auf Island gegen Argentinien. Auf Panama gegen Belgien. Natürlich auf Australien gegen Peru. Und vielleicht sogar ein klein bisschen auf Deutschland gegen Mexiko, Schweden und Südkorea. Dabei ist es die erste WM seit Jahren ohne Miro – und damit für einen Lautrer fast so etwas wie egal. Aber nur fast.

  • SD

    Hast Du mir in die Seele geguckt?
    Danke!

  • Andre

    1990 war Magie, 2014 war “hoffentlich kein Elfmeterschießen, sonst dauerts noch länger”.

    Großartigster Satz eines großartigen Textes:

    “Die Schlandisierung ganzer fußball-ferner Bevölkerungsschichten, die L’Orealisierung der Spieler, die Daimlerwerdung der Funktionäre, die Ausschlachtung des schönen Spiels hin zu einer Chicken McNugget Bestie.”

  • martin

    Danke, Axel. An dir ist ein Schriftsteller verloren gegangen (siehe auch Qualität der drei90 Gedichte). Und zuhören tu ich dir auch immer lieber.

  • Dieses “Früher war alles besser” ist natürlich ein stückweit nostalgische Verklärung. Die WM 1978 fand in einer Militärdiktatur statt, zwischen 1973 und 1994 hat die deutsche Nationalmannschaft immer grauenvolle Songs vor der WM aufgenommen, 1998 wurde Ronaldo mutmaßlich von Nike gezwungen, im Finale zu spielen, obwohl er nicht fit war. Dafür gibt es zwar keine eindeutigen Beweise, aber offensichtlich hatten Sponsoren schon vor 10 Jahren so viel Einfluss, dass zumindest Raum für Verdacht besteht. Hätte es 1998 schon sozialen Medien in der heutigen Form gegeben, sie wären förmlich explodiert und 1978 hätten auch sicher viele in 280 Zeichen ihren Boykott angedroht, um ihn dann doch nicht durchzuziehen.

  • @die_mutti

    Jamann!
    Danke Axel, danke dafür! Auch wenn ich nicht nachts den Florida-Cup gucke und kaum wusste, dass Österreich überhaupt eine Liga hat, danke für den reflektierten Kommentar.
    Mir geht und ging es ähnlich. Ich könnte brechen, wenn ich sehe dass es Schaumküsse auch in Schwarz-Rot-Gold(eher Gelb) gibt oder, dass es Fan-Duschgel gibt. Jeder will ein Stück ab haben von dem WM-Kommerz-Kuchen – bis zur Absurdität. Abee ich erinnere mich noch daran, wie ich 1998 in Frankreich auf einem Campingplatz das Endspiel sah, wie ich mittendrin Nasenbluten bekam, und auf dem Weg zum Wohnwagen den Schlusspfiff verpasste, während ein tosender Lärm der Freude ausbrach. Oder wie wir damals im Sportunterricht morgens 1./2.-Stunde den Fernseher aus dem Bio-Trakt in die Turnhalle rollten sodass sich Klasse und Lehrer ein Deutschland Spiel aus der WM in Korea angucken konnten. Es waren tolle Momente.
    Ich liebe den Gedanken, das Fieber der WM und das will und werde ich bei jeder WM empfinden und leben. Das will ich mir nicht von dem Kommerz-Scheiss und auch nicht von irgendwelchen Deutschlandfahnen-Nazis kaputt machen lassen, nur weil die braune Suppe auch unsere Flagge wedelt. Nein, für mich ist es mehr. Es ist ein stück Kindheitsgeschichte und ich möchte das nicht weggeben. Ich möchte so viele Spiele wie möglich sehen und sagen können „Habt ihr das Tor von xy gesehen, was ne Bude!“ Ich möchte dass es um Fußball geht, den Fußball den ich so liebe, für ein paar Wochen das Elend der dahinterliegenden Welt ausblenden und einfach nur Fan sein.

Haut rein, schreibt mir was!